Mit einem starken Ruck, der mich fast umwirft, bleibt der Zug stehen. Paris. Frankreich. Endlich bin ich angekommen. Ich steige aus und atme die frische Luft ein. Der Weg hierher war steinig, doch endlich bin ich weit weg von zu Hause und vielleicht sogar in Sicherheit.
Für einen Moment halte ich inne, um mich umzusehen. Ich muss mich in der neuen Stadt erstmal orientieren, doch bevor ich den Wegweiser zum Ausgang gefunden habe, werde ich auch schon angesprochen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt ein fremder Mann hinter mir.
Der Typ steht so nah bei mir, dass ich kurz zusammen zucke und ihn dann erstmal nur anstarre. Mein Herz schlägt sofort wieder schneller in meiner Brust, meine Arme schlinge ich schützend um mich und meine Augen wandern panisch über das Gleis. Ich suche bereits wieder nach einer Fluchtmöglichkeit. Es ist fast schon zu einem Reflex geworden, doch der Mann rührt sich nicht, sondern starrt mich nur verwirrt an. Als er sogar noch einen kleinen Schritt zurückgeht, bin ich mir sicher, dass er nicht zu Paul gehört. Dann hätte der Kerl mich gewiss nicht so freundlich angelächelt, sondern mich sofort zurück zu meinem Ex gebracht. Ein wenig Erleichterung durchströmt mich, doch ganz fällt die Anspannung nicht von mir ab. Zu frisch sind die Erinnerungen noch. Nach einer gefühlten Ewigkeit schüttel ich schließlich den Kopf, um dem Fremden eine Antwort zu geben.
„In Ordnung. Falls Sie es sich anders überlegen, kommen Sie heute Abend dorthin.“ Bei den Worten hält er mir eine Visitenkarte hin. „Ich denke, wir können Ihnen helfen.“
Dann dreht er sich um und verschwindet in der Menge. Etwas verdattert starre ich ihm hinterher. Was war das denn gerade?, frage ich mich. Offensichtlich mache ich einen sehr hilflosen Eindruck, wobei das eigentlich auch kein Wunder ist. Seit knapp zwei Wochen bin ich schon auf der Flucht. Meine mittlerweile zerrissenen Klamotten hängen nur noch schlabberig an meinem ausgehungerten Körper und meine Haare sind vollkommen verfilzt und unordentlich. Ja, ich brauche irgendwie Hilfe, doch die würde ich mir ganz bestimmt nicht bei einem fremden Mann holen. Woher soll ich denn wissen, dass er nicht genauso gewalttätig wie Paul ist?
Als der Typ aus meinem Blickfeld verschwunden ist, gehe ich direkt zu einem Mülleimer. Doch gerade als ich die Karte hineinwerfen will, fällt mein Blick auf sie. Prompt halte ich in der Bewegung inne. Auf dem kleinen Stück Papier ist ein Werwolfkopf und darunter ein paar spitze Zähne abgebildet.
Sofort schlägt mein Herz wieder stärker, doch diesmal nicht vor Angst sondern wegen der Aufregung, die mich durchströmt. Konnte das die Lösung für mein Problem sein? Ich habe schon oft davon gehört, dass versteckt zwischen uns Menschen Werwölfe und Vampire leben sollen, doch bisher habe ich nie dran geglaubt und auch nie einen gesehen. Glaube ich zumindest. Ob der Typ von eben wohl ein Werwolf ist?
Ich ziehe meine Hand wieder vom Mülleimer zurück und betrachte die Karte etwas genauer. Es wird ein Kampf angekündigt, vermutlich zwischen einem Werwolf und einem Vampir. Eigentlich habe ich keine Lust auf noch mehr Gewalt, doch einen einvernehmlichen Boxkampf konnte man kaum mit dem vergleichen, was Paul mir angetan hat, denke ich mir. Also fasse ich kurzerhand einen Entschluss und stecke die Karte ein.
Ich laufe die Gasse entlang in Richtung der Lagerhalle. Es ist dunkel und die Straßen nur spärlich beleuchtet. Immer wieder halte ich an und gucke mich um. Der Weg beschert mir eine Gänsehaut, aber ich bin mir sicher, dass ich hier richtig bin. Auf einem verdreckten Straßenschild steht der gleiche Straßenname, wie auf der mittlerweile zerknickten Visitenkarte, die ich in meiner geballten Faust halte. Die Ecken bohren sich zwischendurch immer wieder tief in meine Haut, dennoch stecke ich sie nicht weg. Ich habe das irrationale Gefühl, dass dieses Stück Papier mich schützt.
Schon von weitem bemerke ich die lange Schlange, die sich vor der Halle gebildet hat. Neugierig gleitet mein Blick über die Personen, doch ich kann nicht erkennen, ob auch Werwölfe und Vampire darunter sind. Für mich sehen sie alle aus wie Menschen. Abgesehen von dem Türsteher. Der lächelt mich an, während sein Blick über meinen Körper wandert und zeigt dabei seine spitzen Eckzähne.
„Alea Riga. Schöner Name“, sagt er mit einem Blick auf meinen Ausweis.
Dann winkt er mich hinein und ich bin froh von ihm wegzukommen.
Sobald ich drinnen bin, spüre ich ein Knistern in der Luft, was durch meinen Körper fährt. Die Aufregung erfasst auch mich und sofort werde ich unruhig. Meine Hände bleiben nicht mehr still, sondern spielen an meinen Klamotten oder an meinen unordentlichen Haaren herum. Mein Herzschlag wird stärker und ich spüre das Pochen in der Brust. Die aufgeheizte Atmosphäre reißt mich mit, dabei kenne ich hier niemanden und der Kampf hat keine Bedeutung für mich. Doch das scheint mein Körper nicht zu verstehen.
In der Mitte der Halle ist bereits der Ring aufgebaut. So eine klassische Arena, wie man sie auch vom Boxen aus dem Fernsehen kennt. Ich schaue mich auf den Rängen um und überlege, wo ich mich hinsetzen soll. Die Plätze an den Seiten sind schon ziemlich dicht belegt. Links von mir aus sitzen Männer und Frauen, die ganz gewöhnlich aussehen. Doch das rote Banner mit dem Wolfskopf, das hinter ihnen hängt, steht für ihre wahre Gestalt. Werwölfe. Eines der beiden Völker, das heute Abend hier vertreten ist und ich bisher nur aus Büchern kannte. Mein Blick wandert auf die rechte Seite der Halle. Die Personen dort haben allesamt helle, ausgeblichene Haut. Einer von ihnen guckt mich lüstern an und grinst mir zu, wobei seine spitzen Eckzähne zum Vorschein kommen. Mir läuft ein Schauer über den Rücken und ich brauche das Banner gar nicht zu betrachten, um zu wissen, dass die Personen Vampire sind. Der Blick des einen schwarzhaarigen Vampirs beschert mir eine Gänsehaut und ich verschränke schützend die Arme vor meiner Brust. Trotzdem wandert sein Blick weiter an meinem Körper auf und ab.
Noch immer stehe ich halb im Eingang, unentschlossen, was ich als Nächstes tun soll. Doch durch den lüsternen Blick des Vampirs entscheide ich mich, auf der Seite der Werwölfe am Ring vorbeizugehen. Auf der hinteren Seite der Halle entdecke ich ein paar neutrale Plätze. Dort können sich Menschen hinsetzen, die keines der beiden kämpfenden Völker bevorzugen. Diese Tribüne ist noch fast leer. Nur ein paar vereinzelte Personen sitzen dort. Sie sehen zwar alle aus wie Menschen, aber ich bin mir nicht sicher, dass sie es auch sind. Ich meine, wenn es Werwölfe und Vampire gibt, was gibt es dann noch? Vielleicht Zauberer und Hexen? Oder Elfen und Drachen? Wobei ein Drache in diese kleine Halle vermutlich nicht passen würde.
Ich gehe nach ganz oben auf die Tribüne, sodass ich den gesamten Raum und alle Wesen im Blick habe. Dort setze ich mich auf einen Platz und lehne mich mit dem Rücken an die Wand. Der kühle Beton in meinem Rücken senkt meine Nervosität und ich kann mich etwas entspannen.
Noch einmal lasse ich meinen Blick durch die Halle wandern. Dabei spüre ich erneut die Aufregung und Anspannung in der Luft. Je näher der Kampf rückt, umso hitziger werden die Begegnungen zwischen den eigentlich friedlichen Rassen. Sie begrüßen sich nicht mehr mit einem Lächeln, sondern mit grimmigen Blicken. Hier und da werden manche von ihnen sogar handgreiflich und andere müssen schlichten. Der Kampf scheint nicht nur im Ring stattzufinden, obwohl er sich eigentlich darauf beschränken sollte. Doch die Spannung lässt die Vampire und Werwölfe das vergessen. Auch ich spüre wieder ein Kribbeln auf der Haut und lasse ungeduldig meine Finger über meine schwarze Jeans wandern.
Als es endlich beginnt, sind meine Hände vor Aufregung schweißnass und mein Herz pocht laut in meiner Brust. Mein Blick hat die Arena fixiert, wo gleich die beiden Wesen aufeinandertreffen werden. Ein Werwolf und ein Vampir werden sich miteinander messen. Es soll nur ein friedlicher Wettkampf sein, doch eigentlich geht es hier um viel mehr. Es geht darum, welches der beiden Völker das Stärkere ist. Obwohl gerade Frieden herrscht, ist das ein steter Konfliktpunkt. Deshalb wurde die Arena geschaffen, damit Streitigkeiten hier unter bestimmten Regeln und ohne eine Gefahr für den Frieden beseitigt werden können. Das sind zumindest die Dinge, die ich von den Postern entnehmen kann, die überall in der Halle hängen.
Ein plötzliches Prickeln in meinem Nacken reißt mich aus den Gedanken. Automatisch hebe ich die Hand und lege sie dort auf meine Haut, während mein Blick nun hektisch durch die Halle streift. Beobachtet mich jemand? Habt Paul mich gefunden? Wie komme ich hier weg? All die Fragen schießen mir durch den Kopf, wobei die Panik immer größere Ausmaße annimmt. Schließlich bleibt mein Blick an einer Person hängen, die noch halb im Gang unter der Werwolftribüne steht. Er träg einen langen dunkelbraunen Boxerumhang, wodurch auch sein Gesicht im Schatten liegt und ich aus der Ferne kaum seine Augen erkennen kann, doch ich bin mir sicher, dass er mich beobachtet.
Langsam streift er mit seinen bandagierten Händen die Kapuze von seinem Kopf und lässt den Umhang von seinen Schultern gleiten. Automatisch halte ich die Luft an, während Gänsehaut meine Arme überzieht. Sein Blick ist noch immer starr auf mich gerichtet und sucht meinen, doch ich erkunde mit meinen Augen seinen ganzen Körper. Er sieht verdammt heiß aus! Ich finde nicht ein Gramm Fett zu viel an seinem Körper, seine Muskeln sind perfekt definiert, doch nicht übertrieben aufgepumpt. Er sieht nicht massig aus und bewegt sich mit absoluter Leichtigkeit auf den Ring zu. Ganz langsam wendet er seine eisblauen Augen von mir ab und er konzentriert sich auf seinen Weg. Er hebt eine Hand und fährt sich damit durch die blonden Strähnen, die sich aus seinem hohen Dutt gelöst haben. Eigentlich stehe ich nicht auf so lange Haare bei Männern, doch bei ihm sieht es verdammt gut aus.
Mein Herz pocht noch immer stark in meiner Brust, doch ich bin mir sicher, dass das nicht mehr nur von der Aufregung kommt. Was tue ich hier bloß? Ich sollte den Kämpfer nicht so anschmachten. Männer bringen sowieso nur Unglück und ich habe mir vor meine Abreise aus Italien geschworen, mich nie wieder auf einen Mann einzulassen. Nie wieder sollte mich jemand so belügen und verletzen können. Und was tat ich jetzt? Sabberte wegen dem erstbesten Mann, der mich anguckte. Innerlich schüttelte ich den Kopf über mich und riss mich endlich von dem Anblick des Werwolfs los.
Er musste der Werwolf sein, denn der andere Kämpfer, der nun den Ring betrat, war ein Vampir. Genau der Vampir, der mich vorhin von der Tribüne aus so lüstern angeguckt hatte. Auch jetzt wanderte sein Blick zu mir und ließ einen unangenehmen Schauer über meinen Körper wandern. Was hatten die beiden Typen bloß? So toll sah ich nun auch nicht aus mit meinen unordentlich geschnittenen Haaren, den von der Reise kaputten und dreckigen Klamotten und meinem ausgehungerten Körper. Also warum starren die beiden mich ständig an?
Genau in dem Moment, als mir die Frage in den Sinn kommt, bemerkt der Werwolf, dass der Vampir mich angafft. Ihm entweicht ein grimmiges Knurren, was ihm die Aufmerksamkeit seines Gegners einbringt. Die beiden funkeln sich mordlustig an und es ist jetzt bereits klar, dass das ein harter Kampf werden würde. Den Hass zwischen den beiden Wesen spüre ich durch die ganze Halle und auch der Schiedsrichter nimmt sie offenbar wahr, denn er betont noch einmal die Regeln.
„Es sind keine Waffen oder andere Hilfsmittel erlaubt. Kein Fliegen und keine Verwandlung. Bleibende Verletzungen sollen vermieden werden, ebenso wie die Tötung des Gegners.“
Er sieht sowohl dem Vampir als auch dem Werwolf noch einmal streng in die Augen. Es sind nicht viele Regeln, die die beiden einhalten müssen. Im Grunde genommen ist fast alles erlaubt, dennoch bin ich mir nicht sicher, ob sie sich an die wenigen Vorgaben halten werden. Es brodelt in der Arena und auch in der ganzen Halle. Doch erstaunlicherweise ist es dabei relativ ruhig. Die Anspannung kribbelt auf meiner Haut. Es ist wie die Ruhe vor dem Sturm, der gewiss kommen würde. Die Zuschauer scheinen nur auf das Startzeichen zu warten, um den Sturm losbrechen lassen zu dürfen.
Im Gegensatz dazu wirkt der Werwolf in der Arena ganz ruhig. Wieder ertappe ich mich dabei, wie mein Blick über seinen Körper wandert. Er fixiert den Vampir und knurrt ihn immer wieder leise an. Doch seine Muskulatur scheint vollkommen entspannt. Er knetet seine Hände und lässt einmal seinen Kopf kreisen, wobei sein Nacken knackt. Ich höre es bis zu meinem Platz, da die Zuschauer noch leiser geworden waren. Auch die letzten flüsternden Gespräche sind verstummt.
Meine Hände krallen sich mittlerweile um die Bank, auf der ich sitze. Mein Oberkörper ist nach vorne gebeugt, um näher an der Arena zu sein. Kurz überlege ich, mich weiter nach vorne zu setzen, doch ich will so kurz vor Kampfbeginn keine Aufmerksamkeit mehr auf mich ziehen. Also bleibe ich, wo ich bin, und starre gebannt zur Mitte der Halle, als der Schiri das Startzeichen gibt.
Es ist ein bisschen so, als hätte er mit seiner Handbewegung das Tor zur Hölle aufgestoßen. Sofort springen alle Wesen der beiden Seiten auf und feuern ihre Kämpfer lauthals an.
„Dakota! Mach ihn alle! Du bist der Stärkere! DAKOTA!“, schreien die Vampire in den Saal hinein.
Die Werwölfe versuchen dagegen anzuhalten.
„Liam! Du schaffst das! Zeig ihm, wer die wahren Sieger sind! LIAM!“, deklarieren sie.
Noch bevor ich die ganzen Rufe und die Namen aufnehmen kann, werden im Ring bereits die ersten Schläge verteilt. Liam wippt auf seinen Ballen auf und ab, während er um Dakota herumtänzelt. Der Vampir hingegen geht direkt auf seinen Gegner zu und versucht irgendwie, einen Treffer zu landen. Doch dafür ist Liam zu flink. Immer wieder weicht er aus und sucht nach Lücken in Dakotas Deckung. Er ist absolut berechnend und taktisch, während Dakota einfach nur drauflos schlägt. Damit gleicht er seine körperliche Unterlegenheit aus, denn Vampire sind von Natur aus noch schneller und stärker als Werwölfe soviel ich weiß. Doch das scheint Liam nicht im Geringsten zu stören. Gerade weicht er wieder einem Schlag von Dakota aus. Er rutscht zur Seite und hebt in derselben Bewegung noch sein rechtes Bein. Sein Tritt trifft den Vampir perfekt in der Magengrube, der daraufhin kurz zusammenzuckt und etwas zurückweicht. Doch seine Schwäche hält nur für eine Sekunde an. Erneut geht er auf Liam los und diesmal trifft er. Seine Faust landet krachend am Kinn des Werwolfs und ich zucke auf meinem Platz zusammen. Liam wird zurückgeschleudert und landet in den Seilen. Reflexartig springe ich auf und starre besorgt auf Liam hinunter.
„Du schaffst das Liam!“, höre ich mich schreien.
Für eine kurze Sekunde kreuzen sich unsere Blicke. Sofort verschwindet der Schmerz aus seinen Augen. Stattdessen macht sich Kampflust und Entschlossenheit dort breit.
Liam fasst mit seinen Händen nach den Seilen, stößt sich davon ab und dreht sich mit einer eleganten Drehung zurück zu Dakota. Sofort ist er wieder konzentriert auf seinen Gegner, der sich gerade für seinen Treffer feiern lässt. Einen Moment später bemerkt Dakota, dass der Kampf weitergeht. Sofort stürzt er wieder auf den Werwolf zu. Liam blockt seine Schläge mit Leichtigkeit ab oder weicht ihnen aus. Selbst aus der Entfernung sehe ich, wie er die Bewegungen seines Gegners genau beobachtet und vermutlich analysiert. Er sucht nach einer Lücke. Weiter prasseln die Schläge nur so auf Liam ein, doch er wehrt sich nicht. Die Vampire jubeln immer lauter, während den Werwölfen Verwirrung ins Gesicht geschrieben steht.
„Was machst du da, Liam?“, schreit einer von ihnen durch die Halle.
Genau den Moment nutzt Liam, um wieder in Bewegung zu kommen. Er bewegt sich nach links, reißt sein Bein hoch und plötzlich liegt Dakota am Boden. Plötzlich ist es vollkommen still in der Halle und alle starren gebannt in den Ring. Nur ein paar wenige Sekunden hat Liam gebraucht, um das Blatt zu wenden. Es ging alles so schnell, dass ich es gar nicht richtig mitbekommen habe. Für eine Sekunde scheint die Zeit still zu stehen, während Liam hinab auf den Vampir starrt. Dann kommt er wieder in Bewegung, denn der Kampf ist noch nicht vorbei.
Liam lässt Dakota nicht eine Sekunde zu Luft kommen. Stattdessen dreht er ihn herum, packt ihn am Kragen und prügelt auf ihn ein. Er zeigt keine Gnade. Obwohl mir das Adrenalin durch die Adern pumpt und ich definitiv auf der Seite der Werwölfe stehe, schockiert mich Liams Aggressivität. Selbst als Dakota sich nicht mehr bewegt, schlägt der Werwolf weiter auf ihn ein. Sein Rudel feuert ihn dabei lautstark an, während ich nur stumm und entsetzt in den Ring starre.
Will ich wirklich einer von ihnen werden? Die Frage schießt mir in dem Moment durch den Kopf. Würde es mein Leben besser machen, wenn ich zwar meinen Ex los bin, aber mich hier einem neuen Volk anschließe, zu dem nicht weniger gewalttätige Mitglieder gehören? Ich glaube nicht. Ich bin vollkommen verwirrt von Liams plötzlicher Erbarmungslosigkeit. Dennoch bezweifel ich, dass diese beiden Völker hier die Lösung für mein Problem sein werden.
Noch immer wie in Trance sehe ich, wie der Schiri den Kampf beendet und Liam sich von seinem Rudel feiern lässt. Ich sehe noch einmal kurz zu ihm und begegne seinem Blick. Er starrt mich an und sieht mir hinterher, während ich fluchtartig die Lagerhalle verlasse.
Ich muss hier weg, schießt es mir durch den Kopf. Ich gehe eilig die dunklen Gassen entlang und versuche, den Weg zurück zu meinem Hotel zu finden. Dort sind meine restlichen Sachen, die ich brauche, um weiterziehen zu können. Ich will nicht hier in Paris bleiben. Weder bei dem Wolfsrudel mit dem unbeherrschten Liam, noch bei den Vampiren, wo gewiss Dakota auf mich warten würde.
„Wo willst du denn so eilig hin, meine Schöne?“
Die Stimme kommt aus der Gasse neben mir. Sofort steigt die Panik in mir auf und ich suche mit den Augen einen Fluchtweg, doch es gibt keinen. Links von mir ist die kahle, dunkle Hauswand. Hinter mir liegt die Lagerhalle und von rechts kommt Dakota aus der Gasse, der mir den Weg nach vorne versperrt.
Für eine Sekunde atme ich auf, dass es nicht die italienische Mafia ist, die mich gefunden hat. Doch dann nimmt die Angst wieder Oberhand und mein Herz springt fast aus meiner Brust. Dakota starrt mich so lüstern und siegessicher an, dass mir das Blut in den Adern gefriert. Es wundert mich, dass er so schnell wieder auf den Beinen ist. Die Schwellungen und Blutergüsse in seinem Gesicht sehen schmerzhaft aus und machen sein Grinsen noch grässlicher.
Prompt weiche ich zurück, bis ich mit dem Rücken an der Hauswand stehe. Ich sage nichts, bewege mich kaum und starre ihn nur an. Meine Arme habe ich schützend um mich geschlungen, obwohl ich weiß, dass die mir auch nichts mehr bringen werden.
Dakota kommt immer näher, bis er schließlich so nah vor mir steht, dass meine Hände fast seinen Brustkorb berühren. Er stützt seine Arme seitlich neben meinem Kopf ab, womit er mich noch mehr einengt, während sein Blick weiter meinen Körper erkundet. Mein Puls rast noch immer und ich fühle mich, als würde ich gleich kollabieren. Ich rühre mich keinen Millimeter mehr und weiß, dass meine Augen vor lauter Panik weit aufgerissen sind. Ich bin dem Vampir vor mir hilflos ausgeliefert, dessen Grinsen bei meinem Anblick noch breiter wird. Dabei entblößt er seine scharfen Eckzähne und beugt sich noch weiter zu mir. Warum ich? Was will er von mir?
„Du wirst mich für meine Niederlage entschädigen“, flüstert er ihr ins Ohr. „Du gehörst jetzt mir!“
Seine Lippen und damit seine Eckzähne sind viel zu nah an meinem Hals und meiner gewiss pulsierenden Schlagader. Eine kleine Bewegung von ihm würde reichen, um mein Leben zu beenden. Also warum kann ich mich nicht rühren? Ich sollte weglaufen, ihn wegstoßen, versuchen zu fliehen. Doch ich stehe nur da wie ein verängstigtes Lamm und bewege mich nicht. Ich spüre meinen Herzschlag mittlerweile so deutlich, dass ich die einzelnen Schläge zählen kann. Jede Sekunde scheint eine Ewigkeit zu dauern, während ich zitternd vor Dakota stehe.
1, 2, 3, …
Warum tue ich das? Warum kann ich mich nicht bewegen?
4, 5, 6, …
Ich muss hier weg. Weg von Dakota und weg aus Paris.
7, 8, 9, …
Beweg dich endlich Alea!, schreie ich mich innerlich selber an.
10, 11, 12, …
Noch einmal tief Luft holen, dann läufst du los!
13, 14, 15.
Ich schlage Dakotas rechten Arm weg und setze mich endlich in Bewegung. Meine innere Stimme hat gewonnen. Ich sprinte los. Ich laufe in Richtung der Lagerhalle. Vielleicht sind dort Werwölfe, die mir helfen. Am Ende der Gasse sehe ich ein paar Gestalten sehen.
„HILFE!!!“, schreie ich, so laut es geht, auch auf die Gefahr hin, dass das weitere Vampire sein könnte.
Doch alles ist besser, als mit Dakota allein zu sein. Das Ende der Gasse kommt mit jedem Schritt näher. Folgt Dakota mir gar nicht?, wundere ich mich. Doch ich schaue auch nicht zurück. Ich will nicht sehen, was der Vampir macht oder wo er ist. Doch das brauche ich auch gar nicht. Nur einen Wimpernschlag später spüre ich eine Hand an meiner Kehle. Mir entweicht die Luft aus den Lungen, als er mich mit einem heftigen Ruck gegen die Wand presst.
„So leicht kommst du mir nicht davon!“
Dakota funkelt mich mit einem gierigen Blick an, doch den sehe ich nur für einen kurzen Moment. Mit einer blitzschnellen Bewegung lässt er meinen Hals los und fixiert stattdessen gewaltsam meine Arme über meinem Kopf. Ein schmerzhafter Laut entfährt mir, als meine Handgelenke mit voller Wucht gegen den rauen Stein gepresst werden. Doch dieser Schmerz ist nichts, gegen das scharfe Brennen, das ich in der nächsten Sekunde an meinem Hals spüre. Kraftvoll bohren sich Dakotas Zähne in meine Kehle und alles um mich herum verblasst. Der gleißende Schmerz, der sich von dort wie rasendes Feuer in meinem Körper ausbreitet, betäubt all meine Sinne. Ich habe noch nie etwas Schlimmeres gefühlt. Während mein Bewusstsein abdriftet, sehe ich mein Leben an mir vorbeiziehen. In rasendem Tempo durchzucken hunderte Gedanken meinen Verstand und weiß, dass es alles nun ein Ende hat. Meine Flucht ist unnötig gewesen. Ich hätte in Italien bei meiner Familie bleiben können. Nun sterbe ich dennoch. Alleine in einer dunklen Gasse von Paris.
Dann ist es plötzlich vorbei. Der Schmerz verblasst schlagartig und ich falle. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, bis ich auf dem Boden auftreffe. Wie in Zeitlupe rauscht die Umgebung an mir vorbei und mein Kopf knallt auf die Steine. Mein Blick ist verschwommen und ich höre nur ein Rauschen und undeutliche Stimmen. Was passiert um mich herum? Wieso hat Dakota von mir abgelassen? Ist mir jemand zu Hilfe gekommen?
„Er hat sie erwischt, aber vielleicht können wir die Verwandlung noch aufhalten“, höre ich eine Frau dicht neben mir sagen.
Mit sanften, warmen Finger streicht sie mir eine Strähne aus dem Gesicht. Eine Wölfin. Sofort entspanne ich mich etwas, doch meine Sinne und die Kontrolle über meinen Körper kommen dadurch nicht zurück.
„Wir nehmen sie erstmal mit zu uns. Dort entscheiden wir alles weitere.“
Diesmal hat ein Mann gesprochen, doch ich kenne seine Stimme nicht. Wie auch? Ich kenne hier niemanden.
„Alles klar, Liam.“
Liam? Nein! Nicht der! Ich will nicht zu ihm!
Doch als mich zwei starke Arme heben, kann ich mich nicht wehren. Wie eine leblose Puppe lasse ich mich davon schleppen. In das andere Lager von übernatürlichen Wesen, in das ich nicht wollte.
Ich hätte niemals hierher kommen dürfen! Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Was habe ich getan?